Es gibt wohl kaum einen Kletterer, der sie nicht kennt – die Angst vor einem Sturz. Die Angst ist ein Teil von dir und hat natürlich ihre Berechtigung. Wären wir komplett angstbefreit, wäre die Spezies der Kletterer wohl ziemlich rasch vom Aussterben bedroht.
Aber natürlich wollen wir uns von der Angst auch nicht blockieren lassen und uns im schlimmsten Fall sogar gänzlich die Freude am Klettern nehmen lassen.
Was tun? Verdrängen? Oder lieber nicht?
Das Verdrängen der Angst hilft – wenn überhaupt – nur sehr kurzfristig. Vor allem aber birgt es die große Gefahr, dass sich die Angst dann im denkbar ungünstigsten Moment besonders laut zu Wort meldet – meist in Form von Stress und Panik. Dass du deine Angst nicht wegdrängen sollst, heißt aber auf keinen Fall, dass du sie frei über dich verfügen lassen musst.
Stell dir deine Anteile wie ein Orchester vor – jeder deiner Anteile trägt seinen Teil zum Gesamten bei. Wenn für dein Orchester das Stück „Klettern“ am Programm steht, sind manche Anteile – wie zum Beispiel die Angst – besonders vorlaut und sitzen in der ersten Reihe, während andere Anteile wie Freude, Mut und Neugier von der Angst oft übertönt und nach hinten gedrängt werden.
Aber letztendlich bist du als Dirigent der Chef über dein Orchester und kannst deinen Anteilen damit auch ganz bewusst mehr oder weniger Einfluss geben.
„Mut bedeutet nicht, keine Angst mehr zu haben. Es ist die Entscheidung, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst.“ – James Neil Hollingworth
Nimm Kontakt mit deiner Angst auf
- Schritt 1 – Suche das Gespräch! Lade deine Angst zu einem Gespräch ein. Such dir dafür einen ruhigen Ort an dem du dich wohlfühlst und ungestört bist. Nimm ein paar tiefe Atemzüge und begrüße deine Angst.
- Schritt 2 – Würdige die positive Absicht! Frage deine Angst, was sie für dich erreichen möchte. Würdige die positive Absicht, die deine Angst für dich verfolgt – denn schließlich gehört auch dieser Anteil zu 100 % dir und will das Beste für dich erreichen.
- Schritt 3 – Berichte die Folgen von zu viel Einmischung! Berichte deiner Angst über die Folgen ihrer Überaktivität. Erzähle ihr, wie du dich während des Kletterns und danach fühlst und was du beim Klettern gerne erleben möchtest.
- Schritt 4 – Triff Abmachungen! Jetzt ist Verhandlungsgeschick gefragt – triff mit deiner Angst Abmachungen. Natürlich sollten diese Abmachungen zu deinen Gunsten ausfallen. Vereinbare mit deiner Angst, wann sie Sendezeit und wann sie Pause hat. Du kannst mit ihr beispielsweise vereinbaren, dass sie beim Klettern auf einem Beobachtungsposten unten am Boden wartet. Wenn sie sich dort nicht ruhig und konstruktiv verhält, dann muss sie in der Garderobe oder im Auto auf dich warten.
- Schritt 5 – Zugeständnisse machen! Du kannst aber deiner Angst schon gewisse Zugeständnisse machen. So ist es sinnvoll, deiner Angst eine „Veto-Karte“ anzubieten. Wenn deine Angst eine Situation bemerkt, in der du dich wirklich in Gefahr bringst (10 cm über der letzten Expressschlinge beim Hallenklettern mit aufmerksamem Sicherer gilt sicher nicht als Gefahrensituation 😉 ), darf sie sich mit der Veto-Karte zu Wort melden. Diese Veto-Karte kann bei sehr hartnäckigen Exemplaren der Angst helfen – entweder Veto-Karte annehmen, oder sonst ohne Chance auf Einfluss im Garderobenkasterl eingesperrt werden. Ich habe bisher noch keine Angst erlebt, die sich dann nicht doch lieber auf die Veto-Karte eingelassen hat.
- Schritt 6 – Vereinbare regelmäßige Gesprächstermine! Vereinbare dir ganz bewusst Termine mit deiner Angst. Zum Beispiel am Abend vor einem Klettertag, wenn du gemütlich am Sofa sitzt. Wichtig ist es, auch nach einem Klettertag, an dem es genial gelaufen ist, mit der Angst in Kontakt zu treten. Das ist dann der ideale Zeitpunkt an dem du anerkennen kannst, wie super die Abmachung von deiner Angst eingehalten wurde.
Wie du in der Route mit deiner Angst umgehen kannst
Egal wie dein Gespräch mit der Angst gelaufen ist – ob es eher ein partnerschaftlicher Umgang oder ein Streitgespräch war – du bist nie davor gefeit, dass sich die Angst mitten in der Kletterwand zu Wort meldet. Behalte aber im Hinterkopf, was ihr vereinbart habt. Und das kannst natürlich in dem Moment einfordern.
„Liebe Angst – ich weiß du bist jetzt da um mich zu warnen. Ich pass gut auf mich auf und deshalb verabschiede dich wie vereinbart auf deinen Beobachtungsplatz!“
Wenn die Angst besonders hartnäckig bleibt und sich nicht zurückzieht, darfst du die Angst natürlich auch gedanklich wegsperren, bis du wieder unten bist. Das ist aber das letzte Mittel, wenn sich die Angst vollkommen unkooperativ zeigt. Wenn dieser Schritt notwendig wird, solltest du unbedingt nach dem Klettern das Gespräch mit der Angst suchen, damit die Angst nicht verdrängt wird, sondern ihren Platz bekommt.
Dieser Umgang mit der Angst eignet sich vor allem für Situationen, die objektiv betrachtet ungefährlich sind – wie das Beispiel aus Schritt 5 oben. Bist du beispielsweise beim Alpinklettern oder bei einem Boulder in einer Situation, in der ein Sturz fatale Folgen haben kann, hör genau hin, was dir deine Angst zu sagen hat. Dort ist das kooperative Miteinander mit deiner Angst besonders wichtig. Auf das Thema Sturzangst beim Alpinklettern und Highbouldern werde ich in einem separaten Blogartikel genauer eingehen.
Was tun, wenn dich ein anderer Anteil blockiert?
Das Gespräch – wie in diesem Artikel beschrieben – kannst du natürlich nicht nur mit der Angst führen, du kannst es mit jedem beliebigen deiner Anteile ausprobieren. Und um auf das Beispiel aus meinem letzten Blogartikel zurückzukommen – es funktioniert auch mit dem Schokoladentiger 🙂
Ich freue mich, wenn du mich wissen lässt, wie es dir im Gespräch mit deinem blockierenden Anteil geht!
Viel Freude beim Ausprobieren und alles Liebe,
4 Kommentare
Holger
11. Dezember 2015Hallo Verena,die Angst vorm Sturz hab ich leider erst seit April 2011,hatte September 2010 leider einen Grounder in der Halle,13 m abwärts,meine Verletzungen waren Beckenbruch 1.&3.Lendenwirbel durch,untere Rippen raus,nach 3 Monaten war ich wieder fit für Cardiotraining und leichtes Krafttraining.Kletter jetztzwischen 7+& 8-im Vorstieg,auch im Überhang.Hab eine neue Kletterpartnerin,sie ist auch meine Freundin geworden,klettern läuft super,alles andere auch.Schraube auch beim Dav.LG Holger
Verena Köteles
12. Dezember 2015Hallo Holger, Hut ab, was du nach so einer schweren Verletzung wieder geschafft hast! Im Gegensatz zu den meisten Kletterern, die mit Sturzangst kämpfen, hast du eine sehr schlimme Erfahrung mit der Bedrohung Sturz und deren Folgen gemacht. Ich bin überzeugt, dass eine Kletterpartnerin, der du voll und ganz vertrauts nach so einem Erlebnis die Voraussetzung ist, um wieder Freude am Klettern zu finden – umso schöner, dass daraus dann auch mehr wurde als die Seilpartnerschaft! Lg Verena 🙂
Michael
17. Oktober 2017Es ist schon paradox, wenn man sich mal vorstellt, dass auf dem Fahrtweg zur Halle oder an den Fels höhere Risiken bestehen, an einem Verkehrsunfall zu verunglücken, statt bei einer gewissenhaft gekletterten Route.
Ich finde, das ist eine Sache der Konditionierung. Da das Autofahren einfach alltäglich geworden ist, nehmen wir viele Risiken nicht mehr wahr. Dabei hilft wohl nur kontinuierliches Sturztraining unter Beachtung aller relevanten Aspekte (Vorbereitung, Sturzverlauf, Fangstoß).
Verena Haselsteiner-Köteles
18. Oktober 2017Hallo Michael,
da hast du natürlich recht – wenn beim Klettern die relevanten Aspekte, die du beschrieben hast, berücksichtigt werden, dann ist Sportklettern objektiv betrachtet ein sicherer Sport. Das kontinuierliche Sturztraining hilft natürlich, um zu merken, dass bei einem Sturz nichts passiert und die Sicherungskette funktioniert. Bei vielen Kletterern funktioniert dieses systematische Desensibilisieren sehr gut und sie können durch regelmäßiges Sturztraining angstfrei klettern. Mit dem Kontrollverlust, der bei einem Sturz passiert und dem Erleben der Sturzsituation können nicht alle Kletterer gleich gut umgehen. Je höher die mentale Stärke ist, desto besser kann mit der Sturzsituation umgegangen werden und desto weniger Angst macht sich bemerkbar.
Beim Autofahren haben wir das Gefühl, die Situation immer unter Kontrolle zu haben. Im alltäglichen Straßenverkehr kommt es nicht zu einem Kontrollverlust, das passiert erst bei einem Unfall – wäre der Kontrollverlust beim Autofahren standard, hätten wahrscheinlich viel mehr Personen Angst vorm Autofahren.
Lass uns deine Gedanken zum Thema wissen